Über die Geduld

(von Rainer Maria Rilke)

Man muss den Dingen  die eigene, stille  ungestörte Entwicklung lassen,  die tief von innen kommt

 und durch nichts gedrängt  oder beschleunigt werden kann,  alles ist austragen – und  dann gebären…

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt  und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.  Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,  die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,  so sorglos, still und weit…

 Man muss Geduld haben  Mit dem Ungelösten im Herzen,  und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,  wie verschlossene Stuben,  und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache  geschrieben sind.

 Es handelt sich darum, alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,  ohne es zu merken,  eines fremden Tages  in die Antworten hinein.

Erziehungsmüdigkeit

Bei aus Schlaflosigkeit resultierender Anspannung verschieben sich in meinem Nacken einzelne Wirbel, die einen hauchigen unscheinbaren jedoch beträchtlich nagenden Nervenschmerz in meinem Kopf auslösen, der mich so langsam am Rande des Wahnsinns balancieren lässt wie auf dem Grat eines Berges. Ein Windstoß könnte reichen.
Gelegentlich summiert es sich und dann bin ich darauf aus, jede Unze Schlaf zusammenzusammeln wie das Geld für den Fahrscheinautomaten. Um zumindest eine kompakte durchgängige Menge ohne weitere Zwischenstopps zu erhalten.

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Phantäre & Surrale – Geschöpfe aus dem Notizbuch

Ich wäre gerne von äußerer Stelle zum Künstler ernannt worden und hätte dann gerne meine Aufgabe als solcher erfüllt, leider muss man selbst soweit kommen um den Künstler, den von Kindesbeinen an jeder in sich trägt, zu erkennen und freizulassen.
Ich erkenne ihn an der Freude planlosen Gestaltens und Beobachtens, an zufälligen Einbildungen und Missverständnissen, in meditativer geistiger Leere, in der die Füllfeder ein Eigenleben entwickelt, insbesondere während Telefonaten, längeren Vorträgen oder bei einfachen Entdeckungen am Wegrand.

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Lob für die Wiener Linien

Liebe Wiener Linien,

Ich bin nur gelegentlich in Wien und war bei meinem letzten Besuch sehr über die regenbogen-geschmückten Straßenbahnen überrascht. Als ich dann auf Ihrer Webseite den Pressetext zu Ride with Pride fand, war ich noch überraschter.
Es ist ja noch keine zwei Jahre her, dass Sie maskenlose Fahrgäste im Namen der Regierung diskriminiert und ausgeschlossen haben und nun schmücken Sie Ihr Unternehmen mit Zeichen der Vielfalt, Respekt und Offenheit. Es ist ja bekannt, dass rückgratlose Scheinheiligkeit ihre Fahnen nach jedem Wind richtet, aber das so deutlich zu tun, zeichnet ein sehr klares Bild für die Öffentlichkeit.

Dafür möchte ich mich sehr herzlich bei Ihnen bedanken. Ihr Propaganda-Team leistet wirklich hervorragende Arbeit. Weiter so!!

Mit lieben Grüßen,
Marco Lehner

Eispfützenforschung

Achtung

Menschen wahrhaftig zu beobachten ist gar nicht so einfach. Ehe man sie beobachten kann, muss man sie aus der Schublade zerren, in die man sie bereits gesteckt hat, die Kleidung glätten, ihnen sämtliche Eigenheiten zurückgeben und dann am besten sofort wieder wegsehen um bei sich selbst zunächst jene wunderbaren Facetten zu finden, die man am anderen nur deshalb sucht, weil sie am Selbst unsichtbar geworden sind.
Manchmal achte ich so sehr und genau darauf, wie wenig andere auf sich achten, dass meine Selbstachtung sich in eine gewaltige Fremdachtung verwandelt und mich niederstreckt.

Bei Vorbildern ist es unwichtig, ob es sich dabei um einen großen toten Dichter,
um Mahatma Gandhi oder um Onkel Fritz aus Braunschweig handelt, wenn es nur ein Mensch ist, der im gegebenen Augenblick ohne Wimpernzucken gesagt oder getan hat, wovor wir zögern.

Erich Kästner

Von einer Hausgeburt

Meine Frau wünschte sich von Anfang an eine Hausgeburt und ich, der mehr und mehr die Geheimnisse natürlicher artgerechter Lebensgestaltung abseits stereotyper und gelenkter Massenrituale entdeckte und leben wollte, konnte mich darüber nur freuen. Sie las Bücher von und über Frauen, die ihre Kinder alleine zu Hause oder auch im Wald auf die Welt gebracht hatten, in tiefer spiritueller Überzeugung, in Demut und Glauben an ihre innere Kraft. Auch ich fing an, vergriffene und nicht mehr neu aufgelegte Literatur von Hebammen, die Hausgeburten empfahlen und betreuten, zu lesen. Still und leise ist das Ritual der Geburt in einen halbstandardisierten traumatischen Krankenhausablauf umroutiniert worden, das sich der moderne technokratische Mensch kaum noch anders vorstellen kann. Berichte über Kaiserschnitte und Betäubungen, weggeschlossene Männer etc. werden unreflektiert als Erfahrungsberichte hingenommen und ja, vielleicht hat es nicht anders sein mögen.
Vielleicht aber doch, sofern es der Wunsch und die tiefe Überzeugung der Frau ist. Dieses Terrain kann von einem Mann nicht anders betreten sondern nur demütig begleitet werden. Im Grunde kann er nur da stehen und zusehen, staunen und bezaubert sein, welche Wunder abseits gesellschaftlicher Normen zu finden sind, wenn man fest daran glaubt und vertraut. Beides spürte ich sehr stark in meiner Frau und ich freue mich sehr, hier als Mann darüber zu schreiben.

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