Achtung

Menschen wahrhaftig zu beobachten ist gar nicht so einfach. Ehe man sie beobachten kann, muss man sie aus der Schublade zerren, in die man sie bereits gesteckt hat, die Kleidung glätten, ihnen sämtliche Eigenheiten zurückgeben und dann am besten sofort wieder wegsehen um bei sich selbst zunächst jene wunderbaren Facetten zu finden, die man am anderen nur deshalb sucht, weil sie am Selbst unsichtbar geworden sind.
Manchmal achte ich so sehr und genau darauf, wie wenig andere auf sich achten, dass meine Selbstachtung sich in eine gewaltige Fremdachtung verwandelt und mich niederstreckt.

Bei Vorbildern ist es unwichtig, ob es sich dabei um einen großen toten Dichter,
um Mahatma Gandhi oder um Onkel Fritz aus Braunschweig handelt, wenn es nur ein Mensch ist, der im gegebenen Augenblick ohne Wimpernzucken gesagt oder getan hat, wovor wir zögern.

Erich Kästner

Von einer Hausgeburt

Meine Frau wünschte sich von Anfang an eine Hausgeburt und ich, der mehr und mehr die Geheimnisse natürlicher artgerechter Lebensgestaltung abseits stereotyper und gelenkter Massenrituale entdeckte und leben wollte, konnte mich darüber nur freuen. Sie las Bücher von und über Frauen, die ihre Kinder alleine zu Hause oder auch im Wald auf die Welt gebracht hatten, in tiefer spiritueller Überzeugung, in Demut und Glauben an ihre innere Kraft. Auch ich fing an, vergriffene und nicht mehr neu aufgelegte Literatur von Hebammen, die Hausgeburten empfahlen und betreuten, zu lesen. Still und leise ist das Ritual der Geburt in einen halbstandardisierten traumatischen Krankenhausablauf umroutiniert worden, das sich der moderne technokratische Mensch kaum noch anders vorstellen kann. Berichte über Kaiserschnitte und Betäubungen, weggeschlossene Männer etc. werden unreflektiert als Erfahrungsberichte hingenommen und ja, vielleicht hat es nicht anders sein mögen.
Vielleicht aber doch, sofern es der Wunsch und die tiefe Überzeugung der Frau ist. Dieses Terrain kann von einem Mann nicht anders betreten sondern nur demütig begleitet werden. Im Grunde kann er nur da stehen und zusehen, staunen und bezaubert sein, welche Wunder abseits gesellschaftlicher Normen zu finden sind, wenn man fest daran glaubt und vertraut. Beides spürte ich sehr stark in meiner Frau und ich freue mich sehr, hier als Mann darüber zu schreiben. Mission Mann und Mission Frau kommen sich hier so nahe, dass sie beinahe kongruent übereinander liegen.

I
In einer Samstagnacht einige Tage vor dem Geburtstermin begann in meiner Frau ein leichtes Ziehen, das unsere Hebamme telefonisch als Vorwehen identifzierte und meinte, es könnte morgen soweit sein, aber auch erst in zwei Wochen.
In der Nacht darauf wachte ich gegen ein Uhr morgen auf und fand meine Frau konzentiert atmend vor einem Stuhl knien. Sie bestand darauf, den angemieteten Geburtspool vorzubereiten. Ihr Tonfall war ruhig und bestimmt, so dass ich genau wusste, worum es ging, auch wenn ich selbst so meine Zweifel hatte von den vielen Erzählungen, wie Erstgeburten so abliefen und wie lange sie dauerten.
Anfangs wollte ich sie noch mit Zureden und Berührungen begleiten, so wie wir es in einem Hypno-Birthing-Vorbereitungskurs empfohlen bekommen hatten, aber es stellte sich schnell heraus, dass es für sie leichter war, wenn wir darauf verzichteten. Sie war ganz von sich aus in Hypnose, so dass wir kaum gelernte Techniken brauchten. Ich ließ den Pool, der nicht mehr war als ein praktisches und robusteres Planschbecken, eher halbherzig ein, worauf ich einen kritischen Blick meiner Frau erntete. Mein erster Gedanke war immerhin, dass das Wasser sicher kalt sein würde, ehe es wirklich so weit war. Ich hatte oft keine besondere praktische Veranlagung, was solche Angelegenheiten betraf, Nachdem sie es sich aber relativ schnell darin bequem gemacht hatte und sichtlich entspannter fühlte, sorgte ich dafür, dass immer wieder warmes Wasser zugeführt und bestehendes abgeleitet wurde. Das erforderliche Equipment hatten wir von unserem Geburtshaus mitbekommen. Das war im Grunde die einzige Aufgabe, die ich die Nacht über inne hatte. Meine Frau atmete konzentriert dahin und ich hockte aufmerksam neben ihr.

II
Die Anweisungen der Hebamme hatten gelautet, so lange bis zum nächsten Anruf zu warten, bis die Schmerzen nicht mehr erträglich seien. Irgendwann in den frühen Morgenstunden entschied ich, nachdem weder meine Frau noch ich genau einschätzen konnten, wo wir standen, dennoch anzurufen. Ich hatte den Eindruck, dass sie in ihrer beschwerlicher gewordenen Atmung bereits presste und das kam mir in meiner Wahrnehmung reichlich früh vor, denn es waren noch keine drei Stunden vergangen. Weder meine Frau noch ich konnten ahnen, dass wir uns aus der sogenannten Öffnungsphase bereits in die Geburtsphase bewegt hatten. Die Hebamme versicherte mir, dass sie sich nun auf den Weg machen würde und ich ja inzwischen schon mal „nachsehen“ könnte. Sehen konnte ich aufgrund des trüben Wassers, der Stützstellung meiner Frau am Beckenrand und des dämmrigen Lichts rein gar nichts. In meiner Handfläche fühlte ich allerdings bereits etwas Großes, Weiches, das mich ziemlich erschreckte.
Die zeitliche Abfolge zu dieser Zeit ist mir leider in Anbetracht der magischen Energie, die sich aufgebaut hatte, kaum mehr zugänglich, auch wenn ich kurze Zeit hinterher soviel wie möglich notierte. Was ich erfahren durfte, überstieg jegliche mir bekannte mündliche und schriftliche Erzählung. Ich fühlte im trüben lauwarmen Wasser deutlich eine runde Form und kurz darauf eine Gliedmaße. Das Zimmer war abgedunkelt, nur schummriges Licht, der nasse Rücken meiner Frau vor mir und ich nur angewiesen auf meinen Tastsinn. Ich konnte nicht zwischen Bein, Arm und Nabelschnur unterscheiden, obwohl mir klar war, dass wohl schon von allem etwas DA war. DA. Und es ging sehr schnell.
Ich fühlte diesen weichen zarten Körper in meinen Händen und leistete eine Art Beihilfe mit leichtem Zug aber auch wieder nicht, mit einfachem Halten und Spüren und einer so großen Ehrfurcht und Vorfreude, dass ich innerlich förmlich gluckerte. Die Zeit stand für eine Weile absolut still und ich hatte das Gefühl, die Ewigkeit zu berühren.
Einige Minuten, bevor die Hebamme schließlich läutete, hielten wir unseren Sohn in einer Art gemeinsamen Umarmung im Becken, vorsichtig herumwurschtelnd um ihn nicht zu beschädigen, staunend, was uns da aus tiefen dunklen und ebenso überraschten Augen anstarrte und sogar kurz grinste.

III
Es war uns etwas passiert, das wir nie für möglich gehalten hätten. Eine Geburt ganz für uns. In allen weiteren Schritten half uns glücklicherweise die Hebamme weiter bis hin zur Abnabelung und Gewichtsermittlung.
Von einigen Hausgeburten hört man, dass sie dennoch im Krankenhaus enden. Auch das ist ein Weg, der möglich ist und gegangen werden muss, wenn es die Situation erfordert. Entscheiden wie und ob man sich vorbereitet, muss jeder für sich. Ich bin sehr stolz auf diese Weise berichten zu können. Bei manchen Zuhörern habe ich bemerkt, wie sie entweder schwiegen oder sogar Entsetzen ausdrückten, andere haben sich über alle Maßen mit uns gefreut. Diese Spektren gibt es auf der Welt. Von Erzählungen weiß ich, dass mein Vater bei meiner Geburt nicht dabei war. Ich habe Fruchtwasser geschluckt und war sogar eine Woche von meiner Mutter getrennt. Mein Verlangen nach einer heimeligen Geburt voller Wärme und Vertrauen war mir sehr wichtig, erzwingen lässt sich da natürlich gar nichts.
Immer, wenn ich mich an die Geburt von unserem Sohn erinnere, erfüllt mich dieses Gefühl der Dankbarkeit und Demut, das ich jenen Menschen da draußen wünsche, die sich fürchten, neues Terrain zu betreten. Liebt und vertraut. Betet. Bereitet euch vor. Erwartet das Unerwartete.

Ich glaube, in erster Linie, das schönste am Text, am Schreiben und Lesen ist die Verwandlung in reine Zeichen. Alles andre verschwimmt, nichts existiert, das nicht explizit auf dem Papier steht. So kann man ruhig werden, so wird alles klar, alles löst sich auf, bevor es wieder erscheinen darf. Das ist ein Stück vom Himmel.

Wenn ich ihn neben mir sitzen habe in der Badewanne, nackt neben nackt in Mandelölwasser, da erscheint es mir immer wieder so unbegreiflich, dass nicht nur ich einen Sohn habe sondern dass mein Sohn auch mich hat, einen Vater und dieser Begriff täglich so neu dahergerollt kommt, so dass ich mich abwechselnd fürchte und freue bei dieser Aufgabe, bei dieser Rolle, bei diesem Mysterium, denn ich will mir weder vorstellen ohne ihn zu sein noch dass er ohne mich ist. Ich möchte einfach da sein, da, da, dieses Da ist meine gesamte Aufgabe, während ich einige Wochenstunden Geldscheine aufsammle, die ebenfalls nötig sind um Da zu sein. Durch ihn sind wir anders da, das ist Familie, begreife ich.
Ich schreibe ein Logbuch, um einiges davon festzuhalten, die geliebten Schnappschüsse, Polaroids von täglichen Errungenschaften, Gefühlshöhen und Tiefen, je nach Wind und Wetterlage, die Höhen der Wellen, auf denen wir schaukeln und segeln. Es ist kein Romantikbewerb, kein Prestigeprojekt. Es lässt die dargestellte Außenwelt vergessen, die seltsamen Propagandakonstrukte. Familienkunst, das ist die Skulptur, an der wir arbeiten, die wir formen, in Gesellschaft und privat, wir sind ein kleiner Kernkristall in einem unsteten Gefüge von Freiheit und Verwirklichung. Die Mutter liest auf der Picknickdecke, das Kind inspiziert das Gras und ich, der Vater, zeichne eine Margaritenblüte in mein Notizbuch.

Wenn Sie mit den Änderungen der Allgemeinen Lebensbedingungen einverstanden sind, brauchen Sie nichts weiter zu tun.

Vorstellungsvermögen ist auch ein Vermögen. Das trägt man bei sich und nicht zur Bank, obwohl es auf dem einen oder anderen Bänkchen durchaus zu einem gewaltigen Vorstellungvermögen kommen kann, wenn man seiner Seele den Raum dafür gibt.

Manchmal warte ich richtig auf die erste Laus, die mir über die Leber läuft. Ich kann gar nicht erwarten, sie zurechtzuweisen, ihr den Richter und den Henker zu machen, sie zu zerquetschen, sie platt zu machen.
Nachrichtensprecher sind meine Spezialität. Vor allem ihre wortverdrehenden saloppen Schilderungen und ihre gefährliche Reichweite haben es mir angetan. Sie beeinflussen in großem Stil und sind deutlich eine Gefahr für Zuhörer, die alles breitmundig nachzuquatschen bereit sind.
Aquaplaning hat den Unfall verursacht, sagen sie. Das böse Aquaplaning als eigenständige Bewusstseinsform hat die Macht über den Fahrer übernommen und ihm die Sinne und jegliche Verantwortung geraubt.
Ich ärgere mich über solche Schlampereien, aber ich will es nicht als Ärger weitergeben sondern als aufgeschlüsselte Reihenfolge von Fakten. Und weil ich selbst auf den Verkehr achten muss, kann ich den Moderator nicht sachgemäß überführen. Er bleibt weiter auf freiem Fuß.

Die Treffen mit Vertrauten brachten aber auch mehr Tiefe und Klarheit und immer weitere entsetzliche Wahrheiten, zum Teil so unglaublich, dass ich nur noch lachen konnte. Ja, wenn Österreich und Deutschland nur angestellte Firmen durch einen Alliiertenpakt und im Kriegsrecht festgehalten waren, während so getan wurde, als hätte der Weltkrieg tatsächlich geendet, dann erscheint mir das durchaus befriedigend verständlich. Es würde für mich erklären, warum das Land und die Menschen so waren wie sie waren. So unwirklich sich auch der Rest der Welt momentan anfühlte. Man musste, auch wenn man sich dabei tollpatschig fühlte, dennoch darüber schreiben. Da gibt es keine Fakten augenblicklich, keine Überzeugungsarbeit nur leises Beobachten, nicht einmal ein Schlussfolgern, gar nichts, nichts. Nur verzweifelte Akteure, die ihren Kopf über einem Faktennebel halten wollen um noch etwas Luft zu ergattern, die sie sich zunehmend selbst abschneiden und dabei sogar noch Leute mitnehmen. Das Mitgehen allerdings, das lässt sich gut vermeiden. Mein Vertrauen ist zumindest ein ebengleicher wertiger Nebel, ebenso undurchsichtig, aber zumindest pulsiert darin mein ureigenes Sonar, das ich halbwegs gut hören kann. Und wenn ich das Signal ausgesandt habe und es um mich pocht und der abgetastete Raum mit seinen Untiefen und Nischen deutlich wird, dann kann ich auch besser schlafen.

Die Menschen mit dem Gespür dafür, die wissen auch so, was gemeint ist, die vervollständigen in ihren Herzen und mit ihrem Verstand, während andere verteufeln, ablehnen oder ohnehin abgelenkt sind.

Schlagzeilen heißen Schlagzeilen, weil sie den Leuten ins Gesicht schlagen. Von dem her könnte man sie auch Spuckzeilen nennen.

Nach wie vor ließ ich keine gefrorene Pfütze an mir vorbeiziehen. Ich zertrat sie zärtlich, so wie man einen Löffel in eine Eiskugel gleiten lässt,

nicht mit dem gesamten Körpereinsatz,

mit gespitzten Ohren

und einem zum Absprung bereiten Herzen.

Qualle im Schlafrock

Ich folgte den im Sand schwierig zu lesenden Fußstapfen der Qualle bis in den verregneten Kunstmarkt auf der anderen Straßenseite. Es regnete nur über dem Marktgelände, rundherum auf der Strandpromenade schien eine interessierte und liebevolle Sonne. Die Qualle legte sich dort bereitwillig auf eine Töpferscheibe und streckte ihre Tentakeln in die Höhe, nahm also eine gänzlich unorthodoxe und ihrer GEwohnheit völlig entgegengesetzte Position ein. So stellte sie sich tot bis um fünf Uhr Nachmittag um dann wieder zurück an den Strand zu stolzieren. An diesem Tag lernte ich, dass es auch unter den Tieren Schlafwandler gab, Träumer und Grenzgänger. Und ich war der einzige, der sie dabei beobachten konnte, weshalb ich hier davon berichte. Denn dadurch werden sich diese Sichtungen häufen.

Messestand der Kreidezeit

Auf dem kleinen Messestand wurde veranschaulicht, wie Fabriken und Eigenheime der Dinosaurier ausgesehen hätten, wenn sie ein noch längeres meteoritenfreies Zeitfenster auf Erden gehabt hätten.
Um den Stand betreten zu dürfen musste man sich entscheiden entweder auf allen Vieren anzutreten oder wankend auf zwei Beinen, je nachdem, ob man sich für Carnivore oder Herbivore entschieden hatte.
Als Herbivore wurde man aufgrund der friedlichen Annäherung in einen Salon geschickt und erst später bedient, während die Carnivoren ungeduldig in einer Warteschlange mit ihren Krallenfüßen im Sand scharrten und schneller bedient wurden, damit man sie schneller los war.

Innerirdischkeit

Im Supermarkt arbeiteten zwei neue Außerirdische. Sie stammten von Jeldrak III und hatten erst kürzlich ihr Visum erhalten. Es waren ein Männlein und ein Weiblein names Xertox und Xera. Sie konnten die Etiketten ganz ohne Werkzeuge verkleben und sie gelangten mühelos in die hintersten Winkel jedes Regals. Ihre Arbeitskraft war unerschütterlich und sie kannten kein Wort des Widerspruchs. Dafür bekamen sie auch den üblichen und absoluten Mindestlohn.

Auf dem Kreuz liegen

Das Puppenschiff meiner Schwester ankerte mitten auf dem Teppich im Wohnzimmer. Barbie und Ken lagen auf dem hinteren Deck splitternackt übereinander, mit ausgestreckten Gliedern und sperrangelweiten Aufkleberaugen inmitten verstreuter Miniatursektflaschen.
Sie konnten nur entsetzt sein, so meine Vermutung, über die ihnen vorenthaltenen Geschlechtsteile, weshalb sie gezwungen waren, sich zu betrinken statt zu vögeln.